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10. März 2014, Frankfurter Flughafen, Terminal 1

Zweiundneunzigste Montagsdemonstration
Krimi-Stimmung im Terminal

LESUNG: Gerd Fischer
aus seinem Buch" „Fliegeralarm“ , (mainbook/Gerd Fischer)

 

(im Buch Seite 7 bis Seite 10 Mitte)

Prolog

Schon bald würde sie kommen.

Er spürte die kalte Morgenluft auf der Haut und betrachtete durchs Fenster den dunklen Himmel über Sachsenhausen.

Das Erste, was er hörte, war das nervtötende tiefe Brummen, ein Beben am Himmel, das er so hasste und das so bedrohlich klang.

Sie kam näher. Immer näher.

Es erfüllte die Luft wie ein tosendes Donnern, bis es in Mark und Bein überging und in die letzten Zipfel des Gehörgangs drang.

Seine Ohren vibrierten und er hatte das Gefühl, in seinem Kopf explodiere etwas.

Es steigerte sich eine Weile bis zum Kulminationspunkt, wenn die Maschine direkt über dem Haus flog. Dann bebte es nicht nur in seinen Ohren. Die Wände wackelten. Und dann ebbte es langsam wieder ab.

Er spürte, wie sein Nervenkostüm mit jedem neuen Flieger dünner wurde. Gleichzeitig begriff er, wie sensibel er mittlerweile geworden war.

Es war nicht nur der tatsächliche Lärm, der ihn fertigmachte. Es war dessen Erwartung. Das Wissen, dass er wieder kommt. Dass es wieder losgeht. Morgens. Ganz früh.

Selbst nachts kam er nicht mehr zur Ruhe.

Als die Maschine übers Haus hinweg war und sich am Horizont bereits das nächste Flugzeug abzeichnete, wandte er sich ab und schüttelte den Kopf. Sein Blick fiel auf ein gerahmtes Foto, das auf dem Wohnzimmerregal stand. Er betrachtete es. Sah sich selbst, jünger, seine Frau und seine Tochter, die beide in die Kamera strahlten. Damals waren sie noch zusammen. Eine intakte Familie, wie es so schön heißt. Und jetzt? Sie waren weg. Hatten ihn hier alleingelassen. Wieso war es so weit gekommen? Musste er nicht endlich etwas unternehmen, um sie zurückzugewinnen?

Das Radio, das im Hintergrund lief, lenkte seine Gedanken ab. Er hörte, wie sich die Moderatorin gerade erboste: „Herr Thelen, Sie sind Vorsitzender der Initiative ‚Ja, Flughafenausbau‘. Welche Ziele verfolgen Sie?“

„Der Flughafen ist ein Jobmotor. Er bringt wirtschaftlichen Aufschwung für die Region. Er ist unsere Zukunft. Die Zukunft unserer Kinder.“

„Nehmen Sie überhaupt zur Kenntnis, dass der Fluglärm nach wie vor die Gemüter im Rhein-Main-Gebiet stark erhitzt?“

„Ja, sicher. Aber wir müssen uns einfach einmal entscheiden, was wir wollen: Wohlstand oder Armenhaus? Übrigens haben wir bereits viel erreicht durch umfangreiche Schallschutzmaßnahmen, veränderte Flugrouten und An- beziehungsweise Abflughöhen. Außerdem sollten wir uns von ein bisschen Lärm nicht abschrecken lassen.“

„Sie werfen also den Fluglärmgegnern vor, empfindliche Ohren zu haben?“

„Ich werfe ihnen gar nichts vor“, antwortete Thelen. „Ich lege ihnen nahe, mit uns zusammenzuarbeiten und uns dabei zu unterstützen, das Rhein-Main-Gebiet noch lebenswerter zu machen und weiter nach vorne zu bringen.“

Er schaltete das Radio aus und begriff, dass die Zeit gekommen war.

Er musste seinen Plan in die Tat umsetzen.
Er musste noch eine Rechnung begleichen.

Er würde den Kampf gegen den Lärm aufnehmen.

 

 

S. 1

„Andreas Rauscher, willst du die hier anwesende Elke Erb zu deiner Ehefrau nehmen, sie lieben und ehren, ihr beistehen in guten wie in schlechten Tagen, ihr die eheliche Treue schwören so wahr dir Gott helfe, so antworte: ‚Ja. Mit Gottes Hilfe‘.“

In der Dreikönigskirche am Sachsenhausener Mainufer war es so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Die Hochzeitsgäste hielten den Atem an.

„Ja. Mit Gottes Hilfe“, antwortete der Kommissar und blickte seine Zukünftige mit leuchtenden Augen an.

Die Pfarrerin wandte sich an die Braut. „Elke Erb, willst du den hier anwesenden Andreas Rauscher zu deinem Ehemann nehmen, ihn lieben und ehren, ihm beistehen in guten wie in schlechten Tagen, ihm die eheliche Treue schwören so wahr dir Gott helfe, so antworte: Ja. Mit Gottes Hilfe.“

Die Anwesenden schauten gebannt und ergriffen auf das Brautpaar, insbesondere auf Elke, die in ihrem weißen Kleid mit Schleier und langer Schleppe wunderschön aussah.

Der Frankfurter Kommissar hing an Elkes Lippen, denn er konnte ihre Antwort kaum erwarten.

Elke öffnete den Mund, doch genau in diesem Moment, als sie zum Sprechen anhob, flutete ein ohrenbetäubender Lärm das Gotteshaus und ließ es erzittern. Er riss die Hochzeitsgäste aus ihrer Ergriffenheit, irritierte Rauscher und brachte Elke völlig aus dem Konzept.

Die Kinder hielten sich die Ohren zu. Manch Erwachsener starrte gen Himmel und konnte es kaum glauben.

War der Krieg ausgebrochen? Hatte ein Erdbeben die halbe Stadt vernichtet? Würde die Kirche in der nächsten Sekunde in sich zusammenbrechen?

Schließlich reckten sich die Hälse der geladenen Besucher nach oben, bis eine tiefe Stimme aus einer der hinteren Reihen rief: „Scheiß Fluglärm!“

Alle drehten sich um und starrten den Sprecher an, die meisten konnten es nicht glauben.

Und gerade als wieder Stille eingekehrt war, die Gemüter sich einigermaßen beruhigt hatten und alle – insbesondere die Pfarrerin – zur Tagesordnung übergehen wollten, erklang ein Handy. Das Klingeln war von der ersten bis zur letzten Reihe klar und deutlich zu hören.

Alle Anwesenden drehten sich um zu Klaus Markowsky, der in der zweiten Reihe saß und dem die Situation sichtlich peinlich zu sein schien. Der Leiter der Frankfurter Kripo, der sich auf die Hochzeit seines besten Mannes Rauscher gefreut hatte und dem in diesem Augenblick die gesamte Aufmerksamkeit galt, zuckte die Achseln, gab eine entschuldigende Geste von sich und griff in seine Jacketttasche. Er nahm den Anruf entgegen, nickte zweimal und rief kurz darauf entgeistert Richtung Altar: „Rauscher, da ist eine Frau dran. Sie klingt ziemlich wahnsinnig und will Sie unbedingt sprechen.“

„Jetzt?“, rief Rauscher perplex und schien mit der Lage überfordert zu sein. „Wieso?“

„Sie sagt, wenn Sie nicht sofort mit ihr reden, springt sie vom Dach der alten Uni-Mensa.“

 

(im Buch Seite 14)

Montagsdemos halten an 

Knapp ein halbes Jahr nach Eröffnung der neuen Nordwest-Landebahn demonstrieren am Frankfurter Flughafen jeden Montagabend Tausende gegen Fluglärm.

Sie kommen aus Flörsheim, aus Mainz, aus Nieder-Olm in Rheinland-Pfalz, aus Sachsenhausen, Offenbach, Mühlheim, aus Nordhessen und aus dem Odenwald. Und es verbindet sie eines: Sie wollen dem zunehmenden Fluglärm Einhalt gebieten und damit ihre Gesundheit schützen. Denn Lärm macht krank, wie eine neue Studie der Uni Mainz nachweist.

Transparente und Schilder, die hochgehalten werden, zeugen von Wut und Empörung. „Profitgeilheit statt Menschlichkeit“ steht auf einem Banner. „Der Krach raubt mir den letzten Nerv“, sagt eine Fluglärmgegnerin. „Es muss etwas passieren“, erklärt eine andere. „Der Druck der Straße wächst“, kommentiert ein Mann. Sein Gesicht zeigt Entschlossenheit. 

Artikel aus dem Frankfurter Stadtanzeiger

 

 

(im Buch Seite 26 Mitte bis Seite 29 oben)
Beim Eintreten schwebte Rauscher ein ekliger Duft in die Nase, der ihn an Verwesung erinnerte.

Drei Augenpaare empfingen ihn. Die Kommissare Ingo Thaler und Jan Krause, beide Mitglieder seines Teams, flankierten den Leiter der Mordkommission, Klaus Markowsky.

Karsten Quast trat aus einem Nebenraum hinzu. Der Gerichtsmediziner seufzte und nickte Rauscher zu.

Krause eröffnete mit einer Frage, die Rauscher überhaupt nicht gebrauchen konnte. „Alles klar bei dir?“ Krause sah ihn mit erwartungsvollen Augen an. Er war der Malocher des Teams, blieb oft bis spät in die Nacht und arbeitete Akten auf oder schrieb Berichte. Dafür war ihm Rauscher dankbar. Krause war ein hagerer Typ, 1,85 Meter groß, Ende 30, gebürtig aus Hamburg. Der Job hatte ihn nach Frankfurt verschlagen, aber er war immer noch nicht ganz warm geworden mit der Stadt. Mit Rauscher schon. Sie waren nicht die besten Freunde, aber sie mochten sich.

Jetzt allerdings verzog Rauscher das Gesicht, denn Krause trank gerade einen Kaffee leer und stellte den Becher ab. Rauscher wusste, dass er völlig versüßt war, denn Krause gab mindestens vier Stück Zucker hinein. Allein der Gedanke daran ließ ihn schaudern.

Rauscher ignorierte Krauses Frage und begrüßte die Runde knapp mit einem angedeuteten Kopfnicken. Er blickte in ausdruckslose Gesichter. Seine Augen blieben auf Krause haften. „Was habt ihr denn so Wichtiges für mich?“

„Ein abgetrenntes Sinnesorgan!“, war Krauses knappe und gleichzeitig mysteriöse Antwort.

Rauscher wandte sich um. Direkt vor ihm lag ein Ohr auf einem Stahltisch. Daneben ein offenes Postpäckchen.

„Und ein Zettel“, fügte Thaler an. „Eine Art Bekennerschreiben.“

Rauscher ging einen Schritt vorwärts und zog die Augenbrauen hoch. „Ist das angemaltes Marzipan oder stammt es wirklich von einem Menschen?“

„Bitte keine Scherze jetzt“, schaltete sich Markowsky ein. Der Chef war 60 Jahre alt, sah aber keinen Tag älter als 50 aus, seitdem er sich den Vollbart wieder abrasiert hatte, und wirkte dementsprechend fit. Offensichtlich hatte er sich seit Anfang des Jahres ein eisernes Sportprogramm auferlegt und schon einige Kilo abgespeckt.

„Noch ist offen“, fügte Quast ein, „wie oder womit der Täter das Ohr abgetrennt hat.“ Alle blickten ihn ratlos an.

Thaler fuhr sich durch seine halblangen schwarzen Haare und schaltete sich ein: „Das Päckchen ist Montagabend kurz vor 18.00 Uhr am Flughafen aufgegeben worden.“ Thaler war der Jüngste und Kleinste im Team und Rauscher schätzte ihn besonders für seine Recherchen, wenn es um komplizierte Themen ging. Er war der wichtige Arbeiter im Hintergrund, fleißig und penetrant. Manchmal wirkte er etwas verschroben, aber er war eine treue Seele, das tat dem Team gut.

„Da fängt doch immer die Demo an“, sagte Krause.

„Welche?“, wollte Rauscher wissen.

„Na, die von den Fluglärmgegnern.“ Krause öffnete eine Mineralwasserflasche und trank, als wolle er den süßen Geschmack hinunterspülen.

„Passt ja prima zum Thema, das Ohr“, ergänzte Thaler.

„Ist übrigens ein männliches“, fügte Quast an, bevor Thaler fortfuhr: „Das Päckchen wurde von einem Paketdienst aus Bieber-Waldhof geliefert.“

„Von wo?“, wollte Krause wissen.

„Das liegt in Offenbach, Bieberer Berg sagt euch doch bestimmt was“, erklärte Thaler.

„Kennst du dich da aus?“, hakte Rauscher nach.

„Na ja, also ...“ Thaler zögerte.

„Also, was?“

„Ich bin da geboren“, fügte Thaler an.

„Du bist Offenbacher?“, fragte Rauscher und schmunzelte. „Warum hast du das nie erwähnt?“

„Weil ich seit fünfzehn Jahren in Frankfurt wohne.“ Thaler wirkte genervt.

„Das nennt man dann doch bestimmt konvertieren, ne?“, bohrte Krause nach.

„Können die Herren sich bitte wieder der Arbeit zuwenden?“, erklang Markowskys Stimme. „Danke!“

„Also noch mal von vorne“, setzte Thaler erneut an. „Das Päckchen wurde am Flughafen aufgegeben und kam am Mittwoch im Präsidium an. In der Postabteilung lag es knapp zwei Tage herum, weil es an niemanden persönlich adressiert war und auch keiner bestimmten Abteilung zugeordnet werden konnte. Erst heute Morgen hat sich jemand bequemt, hineinzuschauen. Voilà!“

Rauscher setzte sich. „Was steht da drauf?“

Markowsky nahm den Zettel, der sich in einer Plastikhülle befand, und las mit sonorer Stimme vor: „Über allen Gipfeln ist Ruh', in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch, die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde ruhest du auch. Absatz. Wir fordern die letzte Ruhe für euch alle!“

 

 

(im Buch Seite 50)
Chaoten stoppen 
Sind wir inzwischen zu einer Wohlfühlgesellschaft verkommen, in der Großprojekte wie der Ausbau eines Flughafens oder eines Bahnhofs nicht mehr durchsetzbar sind?

Ja, das meinen wir!

Und das kostet uns jedes Jahr Tausende von Arbeitsplätzen und einige Prozente des Wirtschaftswachstums, von denen wir alle profitieren würden. Denn ohne Wachstum kein Wohlstand.

Die Proteste der sogenannten Fluglärmgegner werden zunehmend massiver. Sie fordern mehr Druck von der Straße. Hier muss Einhalt geboten werden. Wir können uns als Gesellschaft nicht von einigen wenigen diktieren lassen, wie wir als Ganzes zu leben und zu wirtschaften haben.

Deshalb fordern wir: Stoppt die Chaoten! Weg mit dem Nachtflugverbot! Benennt die klaren Vorteile eines weiteren Flughafenausbaus! Fördert die Zukunftsfähigkeit der gesamten Rhein-Main-Region!

 Initiator BI „Ja, Flughafenausbau“

 

(im Buch Seite 53 ab Zeile 8 bis Seite 54 zweite Zeile)
Als Rauschers Festnetztelefon klingelte, lag er wach im Bett, schob die leere Apfelweinflasche auf dem Nachttisch beiseite und starrte geistesabwesend auf den Radiowecker, der 7.12 Uhr anzeigte. Es war kühl und das Zimmer lag im Halbdunkel. Er trank einen Schluck Kaffee und seufzte. Mitten in der Nacht war er aufgewacht, hatte nicht mehr schlafen können. Elke und Mäxchen waren ständig in seinem Kopf herumgekreist.

So kühl, so abweisend.

Rauscher schwang sich hoch und nahm den Anruf an. „Hast du vergessen, dass ich Urlaub habe?“, pflaumte er in den Hörer.

„Andreas!“ Jan Krause seufzte so laut, dass es Rauscher durchs Telefon hören konnte. „Hör einfach kurz zu, okay? Ich dachte, es interessiert dich, dass wir den Rest vom Ohr gefunden haben, ne!“

„Was?“ Begriffsstutzig war Rauscher normalerwiese nicht, aber Krauses Andeutung war kryptisch. „Wie meinst du das?“

„Na, den dazugehörigen Mann natürlich“, antwortete sein Kollege und erzählte Rauscher wann, wo und in welcher Lage er gefunden worden war.

Nachdem Krause ausgesprochen hatte, saß Rauscher einen Moment da und ordnete seine Gedanken. „Und, lebt er?“

„Ja, aber der Blutverlust ist sehr hoch. Als er gefunden wurde, war er bewusstlos. Die Ärzte gehen inzwischen davon aus, dass er durchkommt.“

„Fehlt ihm sonst noch was?“

„Soweit wir bisher wissen nicht.“

„Und wisst ihr schon, um wen es sich handelt?“

„Auch das. Achim Thelen. Er ist Pressesprecher der Bürgerinitiative ‚Ja, Flughafenausbau‘ ...“

„Was?“, fuhr Rauscher dazwischen, „das darf doch nicht wahr sein.“

„Ist es aber. Thelen hat einige ... na sagen wir mal ... provokante Artikel zum Thema Fluglärm verfasst. Weitere Erkenntnisse liegen aber noch nicht vor. Schwingst du jetzt deinen Allerwertesten hierher oder sollen wir allein weitermachen?“

Rauscher zögerte keine Sekunde. „Ich komme.“

 

(im Buch Seite 60 Mitte bis Seite 64 Zeile 5)
Kaum waren Jan Krause und Andreas Rauscher in Sachsenhausen angekommen und klingelten an Peter Schulz' Haus, flog bereits die dritte Maschine über ihre Köpfe hinweg und hinterließ ein Tosen, das bis in die große Fußzehe zu spüren war.

„Ätzend“, bemerkte Krause. „Würde ich auf Dauer nicht aushalten. Ehrlich gesagt, hätte ich mir das nicht so schlimm vorgestellt. Also jemand, der das noch nicht live erlebt hat, kann sich nicht ausmalen, welche Lautstärke hier herrscht.“

Rauscher schaute hoch. Direkt unter der Maschine dröhnte Höllenlärm, sodass er schreien musste: „Und der Lerchesberg liegt sogar noch höher.“ Er deutete gen Norden. Keine dreihundert Meter von hier erhob sich eine Anhöhe mit Villen und schicken Anwesen. Auch die Villa des Frankfurter Oberbürgermeisters lag dort.

„Also donnern sie da noch tiefer drüber.“

„Genau.“

„Oder dieses Wohngebiet in Flörsheim, das kurz vor der Landung auf der neuen Nordwest-Landebahn überflogen wird. Das muss die Hölle sein. Ich frage mich wirklich, warum die nicht wegziehen?“

„Dreimal darfst du raten.“

„Zu bequem?“

„Falsch.“

„Ich weiß es nicht, sag schon!“

„Weil sie nichts mehr für ihre Häuser kriegen.“

„Logo!“, stimmte Krause zu und fasste sich an den Kopf. Er blickte sich um. „Schau dir das an. An jedem dritten Haus oder Hoftor hängen Schilder oder Banner. ‚Stopp Fluglärm‘, ‚Dem Flughafen Grenzen setzen‘, ‚Menschen vor Profit‘.“

„Die scheinen hier fast alle aktiv bei dem Protest mitzumachen.“

„Und warum hängen dann nicht an allen Häusern Schilder?“

„Keine Ahnung.“

Der Lärm schwoll ab und die Maschine geriet außer Sichtweite. Schulz öffnete nicht, obwohl Rauscher noch mehrfach geklingelt hatte. Er schaute zum Nachbargrundstück und beobachtete einen Mann, der gerade eine Mülltonne schloss und zu ihnen herüberstarrte. Er schien irritiert zu sein. „Hallo“, rief ihm Rauscher zu. „Wir wollen zu Herrn Schulz. Kennen Sie ihn?“

Schulz zuckte zusammen und nahm seine Ohrstöpsel heraus. „Ich ... äh ...“ Mehr sagte er nicht, drehte sich stattdessen auf den Hacken um und lief flott in die andere Richtung.

„Moment mal!“ Rauscher bemerkte sofort, dass mit dem Mann etwas nicht stimmte und rannte ihm hinterher. Er war nicht weit gekommen, als Rauscher sich ihm in den Weg stellte. „Warum türmen Sie?“

Auch Krause hatte die Szene mitbekommen, war Rauscher gefolgt und postierte sich direkt hinter dem Mann.

„Kripo Frankfurt“, sagte Rauscher und zückte seinen Dienstausweis. „Das ist mein Kollege Kommissar Jan Krause und ich bin Andreas Rauscher. Wie heißen Sie?“ Der Mann starrte ihn reglos an. „Wohnen Sie hier?“ Rauscher deutete auf Kempfs Grundstück.

„Ich ...“, sagte Schulz zögerlich. „Ich ... habe ... einen Arzttermin.“

„Wir wollen zu Herrn Peter Schulz. Kennen Sie den?“

„Ich ... ich bin Peter Schulz. Ich brauche meine Medikamente.“

„Kein Problem. Wo müssen Sie hin? Wir möchten kurz mit Ihnen reden und begleiten Sie ein Stück.“

Schulz blieb stehen, blickte Rauscher in die Augen und wandte sich zweimal zu Krause um. Wollte er flüchten? Worüber dachte er nach?

Ein Flugzeug störte die Situation. Der Lärm schwoll wieder an. Alle drei blickten hoch und sahen den Rumpf der Maschine. Sie flogen hier so tief, dass man jede Schraube erkennen konnte, dachte Rauscher.

„Alles war gut“, sagte Schulz plötzlich, seine Stimme klang hölzern und monoton und sein Gesicht wirkte ausdruckslos. „Bis am 21. Oktober 2011 die Nordwest-Landebahn eröffnet worden ist. Dann begann der Albtraum.“

„Wollen wir?“, sagte Rauscher und deutete die Straße entlang. „Damit Sie nicht zu spät zum Arzt kommen.“

Schulz nickte, setzte sich in Bewegung und sprach weiter. „Vierhundert Überflüge pro Tag. Etwa zweiundzwanzig die Stunde, wenn man wegen des Nachtflugverbots die paar Stunden abzieht. Anders gesagt: alle 2,7 Minuten ein Überflug. Und sie wollen auf siebenhundert pro Tag steigern. Irre, oder?“ Er atmete leicht und gleichmäßig und schaute Rauscher wieder eindringlich an. „Das hält kein Schwein aus. Nicht auf Dauer. Da staut sich was auf. Es belastet die Psyche, drückt aufs Gemüt. Meine Frau ist vor einem halben Jahr ausgezogen. Vollkommen entnervt. Das Haus ist maximal noch die Hälfte wert. Meinen Job bei der Allianz musste ich an den Nagel hängen. Meine Nerven machten nicht mehr mit. Ständig der Druck, gute Zahlen liefern zu müssen. Ich hab bei dem ganzen Zahlenwirrwarr nicht mehr durchgeblickt, obwohl ich ein einmaliges Zahlengedächtnis habe. Verstehen Sie eigentlich, was ich Ihnen sagen will?“ Krause nickte, während Rauscher ihn skeptisch anschaute. „Der Lärm hat mich krank gemacht. Mein Gehirn ist hohl. Oder Matsch, wie Sie wollen. Wenn du nachts kein Auge mehr zubekommst, zermürbt dich das auf Dauer. Und wenn morgens ab 5.00 Uhr die ersten Flieger starten und landen, dann ist es wie jetzt. Sie hören es ja.“ In diesem Moment überflog erneut eine Maschine ihren Standpunkt und Rauscher riss seinen Kopf herum, um ihr nachzuschauen. „Weinkrämpfe. Panikattacken. ‚Das Ohr ist das Tor zur Seele‘, hab ich online von einem Mainzer Professor gelesen“, fuhr Schulz fort. „Er hat in einer Studie nachgewiesen, dass Lärm Allergien, Bluthochdruck, Migräne und Herzkreislauferkrankungen auslösen kann.“ Schulz holte aus der Jackentasche ein Päckchen Kippen heraus, fummelte hektisch eine Zigarette heraus und zündete sie an. Sie bogen rechts in eine Straße ein. „Und was wollen Sie beide jetzt von mir?“ Er nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch aus.

Rauscher griff in seine Jackentasche. „Schauen Sie sich bitte dieses Bild an. Kennen Sie den Mann?“

Schulz nahm das Foto in die rechte Hand und lachte auf, aber es hörte sich nicht fröhlich an. „Klar, Achim Thelen. Wieso? Hat er mich angezeigt?“ Er übergab das Bild wieder dem Kommissar, der es ganz vorsichtig am Rand anfasste und einsteckte.

„Hätte er denn einen Grund dazu?“

„Ich habe ihn massiv beleidigt. Das Arschloch hat es nicht anders verdient.“

„Was meinen Sie damit?“

„Na ja, wer austeilt, muss auch einstecken können.“

„Er hat sich für die Erweiterung des Flughafens starkgemacht ...“

„Und dabei nur den eigenen Profit im Kopf gehabt“, unterbrach Schulz. „Thelen ist Unternehmer und hat eine eigene Firma, seine Kumpane ebenfalls, zusammen sponsern sie diese angebliche Bürgerinitiative, die in Wirklichkeit eine Lobby- und PR-Organisation für den Flughafen ist. Würde mich nicht wundern, wenn die auch vom Flughafenbetreiber gepampert werden.“

„Kennen Sie ihn persönlich, also sind Sie ihm jemals begegnet?“

„Nein, ich habe immer nur seine Hetzartikel den Fluglärmgegnern gegenüber gelesen. Aber wieso fragen Sie mich das alles ...?“

„Thelen wurde entführt.“

 

(im Buch Seite 68 ab zweiten Absatz bis zum Wort „leidtun“)
Er setzte seinen Weg in südlicher Richtung fort. Der Main floss wie in einer großen Rinne durch Frankfurt und bildete die Grenze zwischen Hibbdebach und Dribbdebach, wie der Volksmund die nördlichen und südlichen Stadtseiten nannte.

Während Rauscher auf dem Eisernen Steg stand und den Himmel betrachtete, begann eine Maschine über Sachsenhausen mit dem Landeanflug auf den Flughafen. Kaum war sie aus dem rechten Augenfeld verschwunden, erschien links eine neue. Wie an einem Band gezogen kamen die Flugzeuge: eine bedrohliche Parade.

Das wilde Donnern und Quietschen kam aus dem Bauch der Maschinen und spannte ein Netz über die darunter liegenden Wohngebiete, dem niemand entkommen konnte. Er meinte, mittlerweile sogar Unterschiede zwischen den einzelnen Maschinen zu vernehmen. Eine klang mehr nach einem Brummen, die andere nach einem Pfeifen und wieder eine andere dröhnte brachial.

In den anderen Frankfurter Stadtteilen war der Fluglärm nicht so präsent, in einigen überhaupt kein Thema. Sachsenhausen konnte einem leidtun.

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